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Warum wir "zu steil anfersen" (und damit ins Leere laufen) |
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Warum wir "zu steil anfersen"
(und damit ins Leere laufen)
Viele ambitionierte Läuferinnen
und Läufer integrieren das sogenannte "Anfersen" regelmäßig ins Lauf-ABC. Im
Training wird die Ferse dabei mit der Absicht gezogen, möglichst nah an das
Gesäß zu kommen - häufig so, dass der Oberschenkel dabei nahezu senkrecht bleibt
und der Unterschenkel "von hinten heran schwingt". Doch diese Variante ist in
Wahrheit nicht nur ineffizient, sondern potenziell kontraproduktiv.
Tatsächlich lehrt uns die Biomechanik, dass ein sinnvoll ausgeführtes Anfersen
idealerweise mit waagerechtem Oberschenkel verlaufen sollte - also die Ferse
indirekt unter dem Gesäß ("unter dem Hintern") ansetzt, nicht direkt von hinten
herangezogen wird. Wenn Läufer hingegen die Bewegung mit senkrechtem
Oberschenkel ausführen, so lehren sie ihrem Körper im Grunde eine
rückwärtsgerichtete, ineffiziente Schwungbeinführung, die kaum in den
eigentlichen Laufzyklus integriert werden kann.
Mit diesem provokativen Ansatz lohnt sich ein genaues Hinsehen: Ist das "gängige
Anfersen" in der Läuferpraxis wirklich nutzbringend - oder eher ein Mythos mit
gefährlichem Beigeschmack?
Das klassische Bild: Anfersen mit senkrechtem Oberschenkel
Zunächst ein Blick auf die
traditionelle Übungsschreibweise:
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In vielen
Trainingsanleitungen wird beschrieben, dass beim Anfersen die
Unterschenkel "abwechselnd zum Gesäß" gezogen werden. |
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Der Fokus
liegt meist darauf, die Ferse möglichst dicht ans Gesäß zu bringen - was
viele dazu verleitet, das Schienbein von hinten her anzuschwingen,
während der Oberschenkel steil nach oben ragt. |
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Eine solche
Ausführung kann visuell eindrucksvoll wirken, suggeriert Kraft und
Dynamik - doch sie hat erhebliche Tücken. |
Warum diese Variante problematisch ist
1. |
Langer
Hebel - hoher Kraftbedarf
Wenn das Bein gestreckt
(oder nur leicht gebeugt) nach hinten schwingt, entsteht ein langer
Hebel. Die Hüftbeugemuskulatur (Iliopsoas, Rectus femoris) sowie der
vordere Oberschenkel müssen mehr Arbeit leisten, um das Bein wieder nach
vorne zu führen. Datasport etwa betont: je mehr das Knie gebeugt ist,
desto kürzer der Hebel und desto ökonomischer das Nach-vorne-Ziehen des
Spielbeins. |
2. |
Falsche
Rekrutierung - Hamstrings als Zugmaschine
Läufer, die aktiv "die
Ferse zum Gesäß ziehen", neigen dazu, ihre ischiokruralen Muskeln (Hamstrings)
übermäßig früh und isoliert anzusteuern. Aber in einem effizienten
Laufzyklus sollten Hamstrings primär in der Abschwung- und
Bodenreaktionsphase wirken, nicht als aktive Pull?Bewegung im Spielbein.
BigRedRunning warnt explizit davor, dass eine aktive Pull?Bewegung nicht
dem natürlichen Rollen im Lauf entspricht und zu verfrühtem Ermüden der
Hamstrings führen kann. |
3. |
Falscher
Bewegungsimpuls im Laufzyklus
Der Wiederanschluss des Schwungbeins gehört idealerweise in den
natürlichen Bewegungsrhythmus des Laufens - mit einem Pendel-ähnlichen
Nach-vorne-Führen und weniger aktivem Zurückziehen. Manche Lauftrainer
kritisieren, dass das klassische Butt?Kick-Drill (Anfersen) gerade durch
seine Rückwärtstendenz den Läufern beibringe, ihre Füße zu weit hinter
dem Körper zu führen - was sich negativ auf die Erholungsphase auswirken
kann. |
4. |
Verletzungs- und
Belastungsrisiken
Eine Überbelastung der Hamstrings oder irritierende Zugkräfte im
hinteren Oberschenkelbereich sind potentiell möglich, wenn immer wieder
aus zu großer Rückführung gearbeitet wird. Im Leistungssport und bei
schnellen Läufen wird oft beobachtet, dass Läufer mit stark ausgeprägtem
"Butt-Kick" eher zu Fehlbelastungen neigen. |
Alles zusammengenommen: Das gängige Anfersen mit senkrechtem Oberschenkel kann
in Trainingsdrills zwar spektakulär aussehen, aber physiologisch und mechanisch
kaum nachhaltig wirksam sein. Es wirkt beinahe "aus dem Zusammenhang gerissen"
und lässt den Drill für viele Läufer ins Leere laufen.
Die sinnvolle Alternative: Anfersen mit waagerechtem Oberschenkel
Wenn wir Anfersen als
Lauf-ABC-Übung beibehalten wollen - was durchaus seine Berechtigung hat -, dann
sollte die Bewegung idealerweise so aussehen:
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Der Oberschenkel bleibt
ungefähr waagerecht oder geringfügig darüber, während das Schienbein
(Unterschenkel) angeführt wird. |
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Die Ferse nähert sich in
diesem Fall in einem sanften Bogen dem Gesäß, idealerweise mit einem
Winkel, in dem das Ganze eher an "Schließen unter dem Hintern" erinnert
denn an ein rückwärtiges Ziehen. |
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Diese Variante ist näher
an der natürlichen Schwungbeinführung und lässt sich besser in den
Laufzyklus integrieren - das Spielbein kommt aktiv nach vorne, die
Beugung reduziert den Hebel, und der Bewegungsablauf bleibt flüssiger. |
Diese Idee stützt sich auch auf Hinweise in der Trainingspraxis:
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In einem
Unterrichtsmaterial des Erasmus-Projekts "Outdoor Athletics" wird
explizit festgehalten: Beim Anfersen soll der Oberschenkel waagerecht
gehoben werden, der Unterschenkel entspannt hängen, nicht "angeferst"
werden. |
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Damit verschiebt sich der
Fokus weg vom aktiven Ziehen hin zu einer pendelartigen und ökonomischen
Schwungbeinbewegung, die sich mit dem natürlichen Lauf verbindet. |
Vorteile dieser Variante:
Vorteil |
Wirkung |
Kürzerer Hebel |
Geringerer Kraftaufwand für das Nach-vorne-Führen des Beins |
Natürlicher Bewegungsfluss |
Bessere Integration in den Laufzyklus - weniger
Kollision mit der Motorik des Laufens |
Geringere Belastung für Hamstrings |
Weniger exzentrische Zugspannung durch
aktives Ziehen |
Neuromuskuläre Übertragung |
Technikübungen wirken eher im Sinne eines Transfers
auf das Laufverhalten |
Einbettung ins Lauf-ABC und sinnvolle Übungsdosierung
Es ist keineswegs so, dass das
Anfersen komplett verteufelt werden müsste - richtig dosiert und technisch
angepasst kann es einen Platz im Lauf-ABC behalten:
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Nutze es
primär als Koordinations- und Aktivierungsübung - etwa als Warm-up vor
intensiverem Training oder als Bestandteil technikorientierter
Einheiten. |
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Führe das
Anfersen langsam und kontrolliert aus, bevor du die Frequenz steigerst.
So kann die Technik sauber verankert werden. (Das entspricht auch der
Empfehlung bei klassischen Lauf-ABC Anleitungen.) |
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Achte darauf,
nicht über das Ziel hinauszuschießen: Der Zweck ist nicht, möglichst
spektakulär oder hoch zu treten, sondern eine saubere Bewegung zu
verankern. |
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Ergänze das
Anfersen mit anderen Lauf-ABC-Elementen (Skippings, Hopserlauf,
Anfersen-Variationen) und mit Techniktrials im Lauftempo, damit eine
Brücke zum echten Lauf entsteht. |
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Autor und Copyright: Detlev Ackermann, Laufen-in-Koeln
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