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Baum, Haus, Kind - und ein Marathon? Warum dieses Mantra ausgedient hat |
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Baum, Haus, Kind - und ein Marathon? Warum dieses Mantra ausgedient hat
Seit Jahrzehnten hält sich der
Satz, ein "richtiger Mann" müsse in seinem Leben drei Dinge tun: einen Baum
pflanzen, ein Haus bauen und ein Kind zeugen. In den vergangenen Jahren hat sich
stillschweigend ein vierter Punkt eingeschlichen: den Marathon laufen. Doch auch
wenn dieser Mythos nach wie vor gern zitiert wird - er passt nicht mehr in die
Gegenwart. Das Laufen hat sich verändert. Es ist vielfältiger geworden,
individueller, und längst nicht mehr an eine symbolische "Bewährungsprobe"
geknüpft. Und: Auf den Straßen der großen Marathons stehen heute fast genauso
viele Frauen wie Männer - zumindest in den USA, während Europa noch aufholt.
In den Vereinigten Staaten
erreichen einige der großen Stadtmarathons mittlerweile Frauenanteile von
deutlich über 40 Prozent. New York, Chicago und Boston verzeichnen Jahr für Jahr
steigende Finisherzahlen von Läuferinnen, die den Marathon als persönliche
Herausforderung, aber nicht als identitätsstiftende Pflicht verstehen. In Europa
ist die Entwicklung ebenfalls spürbar, wenngleich etwas langsamer. Beim London
Marathon etwa nähert sich das Starterfeld seit Jahren der Parität, während
Berlin traditionell männlicher dominiert ist. Die Tendenz ist jedoch eindeutig:
Das Bild vom Marathon als männlicher Mutprobe ist überholt. Der Marathon gehört
längst allen, die ihn laufen möchten - und niemandem, der ihn "laufen muss".
Doch genau hier lohnt sich die
Frage: Muss es überhaupt der Marathon sein? Die Antwort fällt überraschend klar
aus. Für viele Läuferinnen und Läufer sind 5 km, 10 km oder der Halbmarathon die
passendere Distanz - sportlich anspruchsvoll, aber weniger zeitintensiv und
körperlich belastend. Besonders der Halbmarathon hat sich in den vergangenen
Jahren zur vielleicht beliebtesten Distanz entwickelt. Er bietet genügend Länge,
um das Gefühl einer wirklichen Leistung zu vermitteln, bleibt aber in der
Vorbereitung gut mit Alltag, Beruf und Familie vereinbar.
Auch aus gesundheitlicher Sicht spricht vieles dafür, das Ziel individuell zu
wählen. Der entscheidende Effekt regelmäßiger Bewegung entsteht schon weit
unterhalb der Marathon-Distanz. Wer sich mehrmals pro Woche bewegt, senkt sein
Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und stärkt insgesamt Körper und Psyche -
unabhängig davon, wie viele Kilometer bei einem Wettkampf auf der Startnummer
stehen. Der Marathon selbst ist eine intensive Belastung, die Regeneration
erfordert und im Extremfall sogar kurzfristige Überlastungsreaktionen
hervorrufen kann. Das ist kein Argument gegen den Marathon - aber ein Hinweis
darauf, dass er bewusst und vorbereitet gewählt werden sollte.
Vor diesem Hintergrund
erscheint der alte Spruch aus einer anderen Zeit. Er suggeriert, dass es im
Leben bestimmte Pflichten gebe, die erfüllt sein müssen, um Anerkennung zu
finden - als Mann, als Sportler, als Persönlichkeit. Doch Laufen ist heute ein
Raum, in dem Selbstbestimmung an die Stelle von Erwartungsdruck tritt. Ob jemand
10 km läuft, einen Halbmarathon genießt oder mit Begeisterung die 42,195 km in
Angriff nimmt: Jede Distanz hat ihren eigenen Reiz, ihre eigene Würde und ihren
eigenen Effekt.
Deshalb ist das neue Leitbild
eines modernen Laufverständnisses ein völlig anderes. Es lautet: Laufe
regelmäßig. Laufe bewusst. Laufe so, dass es zu deinem Leben passt. Wer einen
Marathon laufen möchte, soll das mit Freude tun. Wer dagegen in kürzeren
Distanzen seine sportliche Heimat findet, ist ebenso Teil der Laufszene. Die
Vielfalt, die heute auf Laufstrecken und bei Wettkämpfen sichtbar wird - von
Anfängerinnen über erfahrene Freizeitläufer bis hin zu ambitionierten Athleten -
zeigt eindrucksvoll, dass niemand sich über eine symbolische Distanz definieren
muss.
Die Frage ist also nicht
länger: "Muss man im Leben einen Marathon laufen?" Sondern vielmehr: "Welche
Form des Laufens bereichert mein Leben am meisten?" Wenn der Sport dort ansetzt,
wo er Freude, Gesundheit und Selbstwirksamkeit vermittelt, dann ist er
angekommen - unabhängig von der Zahl auf der Ziellinie.
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Autor und Copyright: Detlev Ackermann, Laufen-in-Koeln
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