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23.09.2009  

 
 

 
Prof. Dr. Claudia Wiesemann  
Prof. Dr. Claudia Wiesemann, Medizinethikerin an der Universitätsmedizin Göttingen, zu den Verdachtsmomenten gegenüber der Siegerin des 800-m-Laufs der Frauen, Caster Semenya, bei der Leichtathletik-WM in Berlin

ZU DEN VERMUTUNGEN DES LEICHTATHLETIK-WELTVERBANDES (IAAF) GEGENÜBER CASTER SEMENYA, SIEGERIN DES 800-M-LAUFS DER FRAUEN BEI DER LEICHTATHLETIK-WM IN BERLIN NIMMT DIE DIREKTORIN DER ABT. ETHIK UND GESCHICHTE DER MEDIZIN, UNIVERSITÄTSMEDIZIN GÖTTINGEN, FOLGENDERMAßEN STELLUNG:
 
"Frau oder Mann?" Der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) streut Gerüchte, die Siegerin des 800-m-Laufs der Frauen, Caster Semenya, bei der Leichtathletik-WM in Berlin "sei vielleicht gar keine Frau", sie "sei vielleicht ein Mann". Damit ruiniert der Verband leichtfertig ein Sportlerleben. Der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) darf nicht leichtfertig Leben und Leistung von Caster Semenya, Siegerin des 800-m-Laufs der Frauen, zerstören!
 
Die öffentliche Reaktion ist: Ein "Geschlechtstest" muss her. Es müsse doch einfach sein, festzustellen, wer ein Mann und wer ein Frau ist! Die IAAF schürt diese Vorstellungen mit ihren Erklärungen zum Fall Semenya.
 
Doch das stimmt nicht, und Sport-Experten wie Sportmedizin-Experten wissen dies genau: Das Geschlecht eines Menschen wird durch das Zusammenspiel vieler Faktoren geprägt, genetische, hormonelle, anatomische, psychische und soziale Faktoren haben gleichermaßen Einfluss darauf. Kein Experte dieser Welt hat im Zweifelsfall, also dann, wenn nicht alle Faktoren eindeutig in eine Richtung weisen, klare und sichere objektive Kriterien für die Zuordnung als Mann oder Frau. Die Bewegung der intersexuellen und der transsexuellen Menschen hat lange dafür gekämpft, dass dies anerkannt wird. Als Reaktion darauf hat das Internationale Olympische Komitee seit 2000 alle Geschlechtstests bei Sportereignissen abgeschafft.
 
Im Sport müssen klare Regeln gelten. Diese Regeln müssen den Athletinnen und Athleten eindeutig sagen: Du darfst starten - du darfst es nicht. Solche klaren Regeln für den Fall der Caster Semenya hat die IAAF nicht. Die entsprechende Erklärung (IAAF POLICY ON GENDER VERIFICATION) ist wolkig, enthält lauter schwammige Wörter. Von Fall zu Fall müsse entschieden werden, eine individuelle Einschätzung müsse vorgenommen werden. Die IAAF gesteht die Schwierigkeiten, im Zweifelfall Mann und Frau auf der Basis von Tests klar voneinander zu unterscheiden, direkt ein.
 
Auf der Basis solch nebulöser Vorstellungen wird nun Leben und Leistung einer jungen Sportlerin zerstört. Caster Semenya ist 18 Jahre alt, ein Alter, mit dem sie in manchen Ländern dieser Welt noch nicht als volljährig gilt. Die IAAF müsste solche jungen Menschen eigentlich vor den Folgen einer weltweiten Stigmatisierung schützen. Die 800-Meter-Läuferin Santhi Soundarajan hat ver-sucht, sich das Leben zu nehmen, als ihr nach den Asienspielen 2006 die Medaille aberkannt wurde, weil sie ein y-Chromosom hat - ein Befund, der nach-gewiesener Maßen völlig unerheblich für den Sport und für die Ausprägung von Geschlechtsmerkmalen ist.
 
Es ist endlich Zeit, dass der Sport anerkennt: Es gibt keinen "Geschlechtstest". Aber es gibt Menschen, deren Leben durch leichtfertige Funktionäre und eine sensationsgierige Öffentlichkeit ruiniert wird.
 
Prof. Dr. Claudia Wiesemann forscht und lehrt als Direktorin der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen. Sie ist Medizinethikerin und Expertin für Fragen der Intersexualität. Wiesemann ist Mitglied des Ethik-Beirats des Europäischen Forschungsprojekts EuroDSD zur Erforschung der körperlichen Ursachen von Intersexualität. Als Präsidentin der Akademie für Ethik in der Medizin leitet sie eine wissenschaftliche Fachgesellschaft für Medizinethik mit über 500 Mitgliedern aus Medizin, Philosophie, Theologie, Recht und anderen Berufsgruppen.



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Autor und Copyright: Prof. Dr. Claudia Wiesemann
Foto: umg

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